Holger Birkholz, Orange an grüner Kante, 2020

Orange an grüner Kante
Gedachter und gemalter Raum bei Thomas Hellinger

Die Malerei von Thomas Hellinger ist permanent in Bewegung. Farbflecken flattern und flackern. Der Blick kann nur für kurze Zeit verharren, um sich dann von der Fülle an Licht und Farbe, die der Künstler in seinen Bildern ausstreut, fortreißen zu lassen. Wie das Licht auf der bewegten Oberfläche des Wassers im Wellengang immer wieder neue Bilder entstehen lässt, wie es durch das Laub von Büschen und Bäumen vielfältig gebrochen und moduliert erscheint oder wie es durch kaum durchschaubare architektonische Strukturen gefangen und reflektiert wird, zeigt Hellinger in einer Malerei, der es gelingt, ein Paradox der Wahrnehmung anschaulich werden zu lassen: Das stillgestellte Bild erlangt bei ihm eine Dynamik, die dazu tendiert die Bildfläche aufzulösen, die dem Betrachter auf eine Weise den optischen Halt nimmt und im Auge den Eindruck erweckt, die Farbflecken würden über die Bildfläche tanzen.

Hellingers Malerei umfängt ihren Betrachter, in seinen Bildern krümmt sich die Perspektive nach allen Seiten und öffnet sich. Im begrenzten Bildformat treibt der Künstler die Wahrnehmungsmöglichkeiten über die Kanten hinaus und führt den Blick zugleich in die Tiefe. Das hat viel mit unserem natürlichen Sehen zu tun, das wir ja auch nicht als durch präzise Konturen eingeschränkt empfinden. Es ist vielmehr so, dass es zu den Rändern hin ein langsames Verschwimmen gibt. Das Sichtbare gleitet allmählich ins nicht mehr Wahrnehmbare. Man könnte nicht einmal sagen, dass was die Augen sehen seitlich unscharf würde, sondern es verliert irgendwie an Bedeutung. Unsere Vorstellung kompensiert diese mangelnden Informationen durch Erfahrungen mit der Kontinuität des Raumes und Ergänzungen durch bereits aus anderen Perspektiven Gesehenes. Wir wissen, dass die sichtbare Welt sich über den Rand des im Gesichtsfeld Erkennbaren hinaus fortsetzt.

In Hellingers Malerei wirkt diese Vorstellung zurück auf die Bildmitte. Das Zusammenspiel von Farben und Flächen, Positiv- und Negativformen erfasst diese Bewegungen. Sie werden im Bild fixiert. Andererseits bleibt der Blick dauerhaft rastlos und unentschieden, ob er eine Figur als eine ihm entgegentretende Gestalt – als Architekturelement oder Blattsilhouette – interpretieren, oder ob er, zwischen dunklen Umrissen hindurch, die helleren Tiefen der Bilder erkunden soll. In diesem mit dem Medium der Malerei inszenierten Wechsel analysiert der Künstler eine Form der Wahrnehmung, die einander gegenläufige Aspekte zusammenbringt, die wir gewohnt sind, gedanklich zu separieren: Bewegung und Stillstand, Begrenztes und Unbegrenztes, Nähe und Ferne. Hellinger zeigt uns in seiner Malerei, dass wir uns nicht entscheiden müssen zwischen diesen Sichtweisen, sondern dass sie zugleich auf und in uns wirken können.

Das Thema seiner Malerei ist die Perspektive. Die Bilder ermöglichen eine Sicht in den Raum, der ausgesprochen vielschichtig ist. Der Künstler verbindet Motive, die sukzessive in einem zeitlichen Prozess erfahren wurden. Im Raum sind sie nebeneinander vorhanden, weil sie in der Fülle möglicher Eindrücke nicht auf einen Blick oder von einem festen Standpunkt aus betrachtet werden können. Wir müssen uns bewegen, um sie zu erfassen, bestimmten Gegenständen die Aufmerksamkeit direkt zuwenden. Trotzdem wissen wir, dass all diese gesehenen Ansichten und Dinge zeitgleich vorhanden sind. In unserer Vorstellung verbinden wir sie zu einem Raumkontinuum, bei dem sie üblicherweise jedoch nicht in einem Bild verbunden sind.

Das konventionelle Landschaftsbild kennt nur den einen Betrachterstandpunkt. Hellinger hat in seinem Werk eine Darstellungsform entwickelt, die sich von der klassischen Konstruktion der Perspektive in der Kunstgeschichte gelöst hat und den Tiefenraum eher als Erfahrungsraum vor unseren Augen entfaltet. Für gewöhnlich unterscheiden wir zwischen einem sichtbaren und einem denkbaren Raum, deren Repräsentationen Hellinger in seinen Bildern jedoch miteinander verbindet, indem er den gedachten Raum anschaulich werden lässt.

Manche seiner Bilder sind wie zeitliche Abwicklungen, beispielsweise in Werken, die ein extremes Querformat nutzen und bei denen die Komposition gleichsam durch das Bild gleitet. Die Fläche dieser Arbeiten ist rhythmisch strukturiert. Man hat den Eindruck, dass sich Bildelemente mehrfach und wiederholt darin finden, um leicht verändert und in neuen Konstellationen als Variation zu erscheinen. Senkrechte Strukturen – Baumstämme oder Schilfhalme – staffeln den sich horizontal dehnenden Bildraum durch vertikale Setzungen. Farbige Flecken von vergleichbarer Größe, aber deutlich unterschiedener Kontur steigen in diesem Grundmuster auf und ab, treten in vielfältigen Konstellationen zueinander ins Verhältnis und fordern punktuell Aufmerksamkeit.

Durch diese Grundstruktur zieht sich eine Art Band aus Helligkeiten, das in Abtönungen anderer Farben reicht facettiert gebrochen ist. Es gibt dem Auge keine Chance inne zu halten, sondern reißt es mit sich fort, wie die spezifische Unschärfe, die sich ergibt, wenn sich beim Blick aus dem fahrenden Zug, die Landschaft in ihrer Bewegung zu einem davoneilenden Bild aus horizontal verzogenen Farbstreifen zusammen zieht. Die Wahrnehmung dabei wird auch als reziprok bezeichnet. Sie fokussiert einerseits das Objekt und andererseits seine Bewegung, die einen Eindruck von Verzerrung hervorruft. Bei Hellinger wird sie zum positiven Kriterium und zur Ausdrucksform, die es ihm ermöglicht, Farbe in Bewegung zu versetzen.

Mit den querformatigen Bildern bezeugt Hellinger auch die Nähe seines Ansatzes zur Kunst des Panoramas in der Malerei des 19. Jahrhunderts. Die in dieser Zeit entstandenen Rundbilder waren Erlebnisräume, die ihren Betrachter ganz zu umfassen suchten, und ihm den Eindruck vermitteln wollten, dabei zu sein – bei einer Reise ins Heilige Land oder einer blutig tobenden Schlacht. Diesen Ansatz setzte in moderner Form auch Monet in seinen berühmten Seerosenbildern fort. Selbst Barnett Newman in seiner Theorie des Sublimen, der Inszenierung einer Unausweichlichkeit vor einem den Betrachter in seinen Dimensionen übersteigenden Kunstwerk, wie beispielsweise seinem Berliner Bild „Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue?“ steht in dieser Tradition. Hellinger ermöglicht uns einerseits dieses Eintauchen in seine Bilder, andererseits steht er der Überwältigungsästhetik, die Panoramen und insbesondere auch Newman zu etablieren suchten, skeptisch gegenüber. Seine Bilder haben Dimensionen, die mit den Maßen des menschlichen Körpers in proportional angemessenem Verhältnis stehen. Sein künstlerischer Ansatz ist darauf bedacht, das Sehen selbst zu analysieren und gleichzeitig den Blick für die Qualitäten der Malerei und deren körperliche Wirkung zu öffnen.

Hellinger organisiert seine Bildräume durch Flecken. Ihre Form entsteht durch den Pinselstrich, der meist in breiten Bahnen mit gezielter Ausrichtung über die Leinwand gezogen wird. Die dabei entstehenden Streifen der aus den Borsten gestrichenen Farben strukturieren die Flächen. Sie sind in sich nicht monochrom, haben aber in der Regel eine vorherrschende Farbe. Diese wird belebt durch Spuren anderer Tonwerte oder Ausbrüche, die beim Auftragen entstehen und darunter liegende Schichten erkennen lassen.

Die Form dieser Flecken wird zum Teil durch Schablonen konturiert. Hellinger zieht den Pinsel von der Papiersilhouette ins Bildfeld und erhält so eine konkrete Kontur, scharfkantiger, als es möglich wäre, wenn sie bloß gemalt würde. Der Umriss solcher Formen entsteht nicht, indem der Pinsel einer bestimmten Linie folgt und sie begleitet – was sichtbar würde durch parallel zur Kante verlaufenden Schlieren – sondern Kontur und Flächenstruktur behaupten gegeneinander ihre eigenständige dynamische Ausrichtung. Ein Teil des Pinselstrichs verschwindet aus dem Bild, wenn die Schablone abgenommen wird. Die nicht mehr sichtbare, vorhandene zweite Hälfte des Pinselstrichs ist dennoch spürbar in der Dynamik des vorhandenen Rests.

Manchmal verbinden sich Flecken durch eine gemeinsame Farbigkeit und eine Struktur im Strich, die vermuten lässt, dass hier der Pinsel über mehrere Schnitte gezogen wurde. Optisch nehmen sie über die Freiflächen hinweg aufeinander Bezug und lassen ein Gefüge entstehen, eine Art Konfiguration, die aus mehreren Flecken besteht. Im Verbund konstruieren sie ein Gerüst, das an architektonische Prinzipien erinnert. Auch wenn sie in einem gemeinsamen malerischen Akt und zumindest unter Verwendung der gleichen Farbe entstanden sind, so werden sie durch die zwischen ihnen klaffenden Freiflächen separiert. An solchen Stellen kippt der Fokus: Der Zwischenraum zweier Flecken selbst kann wiederum zur Form werden. Dann wird die Gestalt der Schablone nicht als schlichte Kante sondern als eigenständige Figur wahrnehmbar. Das Bild schlägt um vom Positiv ins Negativ. Helligkeitswerte werden umgedeutet.

Der Referenzraum, der sich dabei öffnet ist die Natur, Einblicke in belaubtes Dickicht. In der Vielzahl der Formen, der Fülle der Blätter und der Gleichwertigkeit der Einzelheiten fällt es schwer, individuelle Formen zu fokussieren. Jeder Fleck hat seine Berechtigung, weil er zum Eindruck des Ganzen beiträgt. Er verschwimmt in einem visuellen Eindruck, der ständig in Bewegung ist. Mal nehmen wir den einzelnen Zweig wahr, der ganz dicht vor dem Gesicht auftaucht, um im gleichen Moment in der Tiefe der Lichtflecken den Raum zu erkunden. Das sind Inversionsformen, für die sich Hellinger interessiert. Je nach dem, wie das Licht auf die Blätter fällt, leuchten sie hell vor dunkelgrünem Waldinneren auf, oder sie zeichnen sich in tiefen Grüntönen scharf ab vor einer im Sonnenlicht strahlenden Lichtung.

Hellinger konstruiert Tiefenräume in seinen Werken durch die Größe der Formen und die Helligkeitswerte der Farben. Zum Bildzentrum werden die Flecken ansatzweise geordnet, die Figuren werden größer oder sie gruppieren sich und bilden eine Art Cluster, der gestalthaft verstanden werden kann. Gleichzeitig erhöht der Maler zur Bildmitte hin die Kontraste. dadurch entsteht ein optisch geschärfter Eindruck. Hier verwendet er gern Gelb oder Orange. Um eine allzu direktive Führung des Blicks auf diese Bildzonen zu vermeiden, stellt er ihnen aktive Ballungen leuchtender Farben, gleich lautende Reflexe zur Seite, die in den Randzonen seiner Bilder als Echo wieder klingen. Zu den Bildrändern hin verwendet der Künstler eher gebrochene Farben, die sich in ihren Abstufungen einander annähern.

Hellinger entwickelt seine Malerei aus der hellen Fläche, aus dem Weiß, und setzt Schicht für Schicht Farbflecken darauf. Wenn dieses Geflecht zu dicht wird und sich zu schließen droht arbeitet er wieder großflächig weiß hinein, um so die Komposition zu lockern. So entsteht eine Art Tiefenraum aus dem Wechsel von gesetzten Farbflecken und Strukturen, die wiederum durch großflächig helle Partien unterbrochen und für den Auftritt neuer Farbformen bereitet werden. Es geht ihm um ein ausgewogenes Verhältnis an bestimmten und unbestimmten Formen, die sich einerseits zum Bild konkretisieren, es andererseits aber auch als bewegtes offenhalten.

Hellingers Farbspektrum ist vor allem durch kühle Töne bestimmt. Das liegt insbesondere am Weiß, das er auch verwendet, um die Präsenz seiner Formen und Farben zu stärken. Es wird flächig eingesetzt, umrahmt die gelungene Form einer Malschicht, indem es die anderen Elemente der gleichen Ebene abdeckt. Es verschafft dem Künstler Freiräume, in denen er das somit hervorgehobene Motiv im weiteren Prozess entwickeln und kommentieren kann. Das Weiß verbindet gleichzeitig Töne miteinander, es enthält Spuren bereits aufgetragener Farbsubstanzen, die verwischt durchschlagen, oder es wird durch weitere Pigmente gebrochen und belebt. Bei aller Bewegtheit wirkt dieses Weiß sehr kalt und rational. Es erscheint als ein sezierendes Moment, gerade auch weil es dazu dient, die geschnittenen Konturen der Silhouetten umso scharfkantiger hervortreten zu lassen. Es ist eine der Grundlagen für die Analyse des Raumes bei Hellinger, und es ist der Fond, auf dem die Malerei beginnt, die weiß grundierte Leinwand. Der Maler kehrt immer wieder dahin zurück, er löscht Malspuren, indem er Flächen wieder weißt, er betont Figuren, wenn er sie mit weißen Flecken umrahmt. Im Kontrast dazu können die Orange- und Gelbtöne in der Bildmitte besonders intensiv agieren.

In der Serie mit dem Titel „Nachtlicht“ spielen diese Farben eine besondere Rolle. Sie kommentieren gezielt die vorherrschenden Blau- und Grüntöne, nehmen sich aber zurück, machen sich gleichsam rar, um dadurch umso wichtiger zu werden. Sie erscheinen als Versprechungen, die durch das Dickicht schimmern. Sie verlocken und machen uns neugierig, was wohl der Ursprung ihrer rätselhaften Präsenz sein mag. Mit dieser Funktion – der Steigerung der Intensität der Grüntöne, dem durch sie hervorgerufenen Eindruck von Tiefe und der inhaltlich nicht einfach zu lösenden Herkunft – wäre schon erklärt, warum es sie in den Bildern geben muss.

Aber im Verbund mit dem Titel öffnen sie eine Art romantischer Vorstellungswelt. Plötzlich strahlt durch das Laub der Mondschein und offenbart neben kaltem Weiß einen Reichtum an Farbigkeit, der in die Geborgenheit des belaubten Verstecks hinein leuchtet, wie manchmal eben nur ein Lichtfunken über die Kante eines Blattes kippen kann, das vom Mond oder der Sonne beschienen, von einem Windstoß bewegt zurück weicht, und im Wechsel von Licht und Schatten, sein unerschöpfliches Spektrum offenbart.

Das andere große Thema des Künstlers ist die Architektur, die üblicherweise als wohl geordnete und insbesondere in der Moderne klare Form verstanden wird. Hellinger hingegen sucht in seinen auf Architekturen referierenden Werken nach der Vielschichtigkeit architektonischer Prinzipien, nach deren Beweglichkeit, die Mehransichtigkeit veranschaulicht. Dabei gerät die Konstruktion aus den Fugen, um sich neu zu ordnen und so weniger das Gebäude als Bauwerk als vielmehr unsere Wahrnehmung des Gebäudes wiederzugeben.

Nicht ohne Grund bezieht sich der Künstler in einer Reihe von Werken auf den römischen Barockkünstler Giovanni Battista Piranesi. Dessen in der Mitte des 18. Jahrhunderts entstandene Serie von Radierungen, die sogenannten „Caceri“, sind keine Wiedergaben konkreter Bauten, sondern freie Phantasien. In ihnen soll eine Stimmung hervorgerufen werden: eine ganz eigenartige Mischung von spielerischer Freude, die versucht, den verschlungenen Treppen- und Gewölbestrukturen zu folgen und so fast musikalisch rezipiert werden kann. Dem steht eine beklemmende Wirkung entgegen, die vor allem dadurch entsteht, dass der Betrachter in diesem Wirrwarr von kaum zu separierenden Architekturelementen die Übersicht verliert und sich im Schauen verirrt. In seiner Grafik-Serie erprobt Piranesi verschiedene solcher Formen und schafft zugleich unterschiedliche Ansichten, die Blatt für Blatt immer weiter in die Tiefe seiner gebauten Träume führen. Man hat diese Blätter auch eine frühe Form der Visualisierung psychischer Strukturen genannt. Sie führen in unbewusste Räume, in das Verborgene, und offenbaren die irrationale Seite der Architektur, wenn wir uns ihr gegenüber emotional verhalten.

Hellinger sucht diese beiden Elemente in seiner Auseinandersetzung mit Piranesi: zum einen die bewegte Bildform durch die Dynamisierung bildnerischer Strukturen, die sich modifiziert wiederholen und so auch als zeitliche Abfolge gelesen werden können, und zum anderen die emotional, psychische Wirkung einer solchen aufgefächerten Bildkomposition, die eben nicht rational konstruiert ist, sondern in ihrer Bewegung vielschichtig bleibt. Zudem befragt Hellinger seinen eigenen Ansatz der Lichtführung im Verhältnis zu Piranesis Lichtregie. Der römische Barockkünstler zeigt in seiner Grafikfolge keine konkrete Lichtquelle. Ihr Ursprung bleibt immer hinter Architekturelementen verborgen, die davor silhouettenhaft hervortreten. Das Licht wird entgegen den dunklen verschatteten Bauelementen auf den bestrahlten Wandflächen sichtbar. Auch bei Hellinger erscheint das Licht in der Tiefe seiner Bilder, aus der es oft geheimnisvoll hervorstrahlt, vor allem durch die im Vordergrund kontrastierend eingesetzten Farben oft wie überdeckt und verschattet.

Dr. Holger Birkholz, 2020


aus: Thomas Hellinger • Licht I Schatten I Licht
Hrsg. Städtische Sammlungen Kamenz 2020, Kleine Schriften Band 14, ISBN 978-3-910046-80-1




Karl Günther Hufnagel, Für Thomas Hellinger, 2004

Für Thomas Hellinger

Weiß. Was ist Weiß? Warum ist überhaupt Weiß?

Ich wandle den Satz im Beginn der Metaphysik ab: Warum ist überhaupt Rot und nicht nur Weiß?

Gab es da vormals ein Dunkel, wüst und leer, oder vielleicht doch das Weiß, in dem nichts war außer ihm, rätselhaft mit sich selbst, wartend auf Farbe, um sichtbar zu werden als das was nicht ist, als Weiß, erfunden durch Rot, Blau, Gelb.

Das Weiß ist das Geheimnis, das Undeutbare, das, zur Kunst geworden, nicht mehr bedroht, sondern umschließt, was zeigt, was sich zeigen soll, Farbe und Kontur, die sich in ihm behaupten.

Weiß ist die Stille, in ihr das Aufbegehren des Vorgefundenen oder Hergestellten, Kunst mir dem Blick in ein Dahinter, auf der Suche im Weiß. Oder auf der Flucht mit der zerstörten Wirklichkeit davor, ihr fremd, ins Bild, in die Andachtsbilder des Schweigens. Vielleicht kennen wir allein Andachtsbilder als Kunst, suchen mit ihr nach dem

Unbegreiflichen, das befreien soll. Sie ist mehr als die Behauptung einer Erfüllung, als bloßer Betrug oder Selbstbetrug im Versuch eines

Trostes in diesem Schweigen ringsum, das ängstigt. Die Farbe als Ohnmacht des Willens in der Gewalt des umgebenden Weiß. Die Kunst soll schweigen, sagen die Bilder, ihr Gebet still sein, ohne Titel, Frömmigkeit inmitten von Weiß, das zu einer Heimstatt verändert wird, in der das Vorhandene steht oder fällt.

Dazwischen die Atemlosigkeit des Versuchs, die Frage nach Wahrheit, die nicht beantwortet wird. Die Unendlichkeit gefährdet nicht mehr, eine Bild mahnt Erwartung an, drinnen wartet vielleicht Maria im Rosenhag. Es ist nur die Laube, aber Maria könnte sich zeigen. Doch die Laube ist zersplittert.


aus: Thomas Hellinger • Flüchtige Raumsequenzen • Katalog anlässlich der Ausstellung im KV Hochrhein, 2007

Sylke Kaufmann, Landschaften im wechselnden Licht, 2020

Landschaften im wechselnden Licht

Sechs großformatige Gemälde, schlanke Hochformate von 2,50 Meter, schuf Thomas Hellinger 2019 eigens für die Schau seiner Werke in der Kamenzer Klosterkirche. Sie mussten auf den außergewöhnlichen Raum, den besonderen Ort reagieren. Nicht jeder Künstler stellt sich dieser Herausforderung: Der wunderbare sakrale Raum birgt Tücken – im Atelier stattliche Dimensionen verschwinden in der weiten, lichten Kirche mit ihrer exzeptionellen Höhe. Kunstwerke, die an anderen Orten ihre Wirkung entfalten, drohen hier förmlich unterzugehen. Der Künstler muss im Vorfeld eine lebhafte Vorstellungskraft für die Wirkung, für die Größenverhältnisse in diesem ganz besonderen Saal entwickeln, die richtigen Maße erspüren. Thomas Hellinger ist dies eindrucksvoll gelungen.

Man betritt die Annenkirche vom Westwerk aus – und steht sofort vor einem grandiosen Panorama, denn man nimmt im Kirchenraum im selben Augenblick fast kulissenartig fünf goldglänzende, spätmittelalterliche Altarretabel wahr, die Hauptattraktion des Sakralmuseums. Während der Ausstellung wird dieser erste Eindruck kombiniert mit drei der großformatigen Bilder Thomas Hellingers, die kurz hinter dem Eingang die erste Aufmerksamkeit auf sich ziehen und erst dann den Blick auf die Altäre im weiteren Kirchenraum frei geben. Von dieser Seite aus sieht man Gemälde mit organischen Strukturen, zarte Pastelltöne, Hellblau, Lila, Gelbgrün, Altrosa, durchsetzt von kräftigeren Nuancen – Farben im Wechselspiel des Lichts. Von den Strahlen der Sonne durchdrungenes Blattwerk, ein schmaler Treppenweg durch eine enge Schlucht, irisierende Spiegelungen auf Wasseroberflächen im Licht und im Schatten, die Vegetation im, am, über dem Wasser, die indirekt in den Gemälden aufscheint – dem Betrachter eröffnen sich viele Assoziationen. Die Bilder leben nicht zuletzt von den ganz individuellen Empfindungen, die wir alle in sie hineintragen. Das Spiel des Lichts auf Wasseroberflächen und Blattwerk findet in St. Annen eine kongeniale Entsprechung in den durch den Kirchenraum wandernden Strahlen der Sonne, die das Gold der Altäre immer neu aufleuchten lassen.

Nachdem man die Annenkirche durchschritten hat, blickt man vom Chor zurück und sieht nun drei andere Gemälde, wiederum schlanke Hochformate. Jetzt reagiert gemalte Architektur nicht weniger kongenial auf den spätgotischen Kirchenraum: Straßenschluchten der großen Metropolen, riesige, phantastische Hallen, Hochhäuser als Symbole himmelsstürmender menschlicher Leistung und Hybris – Architekturkulissen à la Piranesi, übertragen in Bauten und Lebensgefühl des 21. Jahrhunderts. Und immer wieder zieht ein gleißend helles Licht den Betrachter hinein in die Kompositionen, führt wie ein Sog zum Ende der Gebäude weit hinten in den Bildern. Licht und Schatten formen diese Häuser, umspielen die mächtigen Pfeiler.

In der mittelalterlichen Hallenkirche erscheinen die Bilder wie an ihrem ureigenen Platz: Sie entwickeln einen faszinierenden Zusammenklang mit der sich ebenso in den Himmel reckenden spätgotischen Architektur. Die Gemälde finden ihre Fortsetzung, ihre Erweiterung im umgebenden Raum, im Streben in die Höhe, das der Gotik eigen ist. Eine so unerwartete wie optisch eindrückliche Verwandtschaft zwischen dem Spätmittelalter und dem 21. Jahrhundert wird augenscheinlich. St. Annen verkörpert meisterhafte Architektur aus religiösem Überschwang, aber mit einem klar definierten Ziel: Eleganz zur Ehre Gottes, um ihm nah zu sein. Angesichts dessen werfen die gemalten Straßenschluchten Fragen auf: Wer verwirklicht sich in den architektonischen Prestigeprojekten der Gegenwart und warum, woran glauben wir heute …

Die beiden Triptychen in der Klosterkirche St. Annen beweisen nicht nur die starke Präsenz der Bilder Thomas Hellingers im Raum, sie stehen exemplarisch auch für zwei prägende Themenkomplexe seines Œuvres der letzten Jahre. Neben die Architekturbilder traten vermehrt auch Werke, die organische, vegetabile Formen aufgriffen – die Natur wurde zum Bildthema, ein größtmöglicher Gegensatz zu den kalkuliert und streng geometrisch konstruiert wirkenden Architekturkulissen. Dem Betrachter begegnen sonnendurchflutete Waldlichtungen, scheinbare Momentaufnahmen unspektakulärer Naturausschnitte, im historisch aufgeladenen Format des Triptychons überhöht. Gleißende Flächen unter dunklem Waldesgrün, die Helle hinter den dichten Bäumen eröffnet wieder den lichten Ausblick, der auch für die Architekturkulissen charakteristisch ist. Seltener erscheinen deutlich florale Motive, doch in einer Serie von 2014 erweisen sich die künstlerischen Mittel auch diesen Gegenständen gewachsen – verfremdete Blüten erschaffen neue, zum Träumen einladende Wirklichkeiten.

Ein zentrales Thema, zu dem der malerische Zugriff Thomas Hellingers geradezu einlädt, ist die Auseinandersetzung mit Wasser – Spiegelungen, Farbreflexe, Lichtpunkte, fortwährende Bewegung und ständiger Wandel des Erscheinungsbildes. So gibt es zahlreiche Werke, bei denen sich beim Betrachter zwangsläufig Assoziationen einer bewegten Wasseroberfläche einstellen. Man vermeint, das wohltuende Plätschern kleiner Wellen zu hören, die wechselnden Reflexe der Lichtpunkte auf dem Wasser, die Spiegelungen der Farben des Uferbereichs, der Wasserpflanzen oder vorbeiziehender Boote zu sehen. In ihrem Ausloten der verschiedenen Stimmungen des Wassers sind die Bilder den berühmten Seerosen-Gemälden von Claude Monet verwandt. Monet war fasziniert von den Seerosen auf seinem Gartenteich in Giverny, gepaart mit den farbsatten Spiegelungen der überhängenden Ufervegetation, der Wolken und der Unterwasserpflanzen – verschiedene Wahrnehmungsebenen und sich überlagernde Spiegelungen vereinten sich auf der Wasseroberfläche zu immer neuen Anblicken, wechselnd im Licht, in den Tageszeiten und Wetterbedingungen, die ein und dasselbe Motiv fortwährend anders erscheinen ließen und den Künstler immer wieder zu neuen Werken reizten. Vielen dieser Gemälde ist eine geradezu meditative Ausstrahlung eigen. Wer jemals im Pariser Musée de l’Orangerie in den beiden ovalen Sälen mit Monets Seerosenpanoramen gesessen hat, wird diesen Eindruck nicht vergessen. Und er wird ihn vielleicht – wenn auch in anderer künstlerischer Handschrift, aber verwandter Stimmung – in den Bildern Thomas Hellingers wiederfinden. Auch bei ihm entstehen wie bei dem berühmten französischen Impressionisten regelrechte Serien, die an Monets Verzweiflung und seine Bemühungen erinnern, die ständig wechselnden aktuellen Stimmungen festzuhalten. Jede Tageszeit, jeder Sonnenstand, jeder Wetterwechsel erschaffen neue Motive.

So ist bei Thomas Hellinger in einem Bild eine beruhigte Wasseroberfläche bei bedecktem, zartgrauem Himmel zu sehen; die Bäume am Ufer spiegeln sich nur leicht verzerrt auf der Wasseroberfläche. Eine Wolke später gibt das nie ruhende, in steter Veränderung begriffene Wasser schon wieder ein völlig anderes Bild. Der Maler ist gleichermaßen fasziniert wie herausgefordert, ein eigentlich unspektakuläres Motiv immer wieder durchzuspielen. Der Gegenstand ist stets neu, und die unaufhörliche Bewegung des Wassers erscheint auch als Gleichnis für die immerwährende Veränderung des Lebens. „Zum Augenblicke dürft‘ ich sagen: Verweile doch, du bist so schön!“ (Goethe, „Faust II“) – dem Pinsel des Künstlers ist es vergönnt, die Essenz eines Moments für die Ewigkeit festzuhalten, dessen Vorbild in der Natur keine Dauer beschieden, ja schon Sekundenbruchteile später unwiederbringlich vorüber ist.

Die Bilder spielen mit den Formen, Mustern und Farben der Natur, vor allem aber mit ihrem wechselnden Licht, das ihnen auch eine eigene Dynamik verleiht. Insofern ist Thomas Hellinger hier dem französischen Impressionismus sehr nahe, auch wenn der malerische Duktus eine ganz andere, eigene, unverwechselbare Handschrift trägt und auch wenn der Künstler in vielen Fällen eher eine Essenz als einen konkreten, realen Augenblick wiederzugeben scheint. Die Natur als Anregung, nicht als Vorlage für ein möglichst genaues Abbild …

Daneben ist Architektur nach wie vor ein wichtiges Motiv für den Künstler. Einen Übergang von den Natur- zu den Stadtlandschaften stellen die Bilder nächtlicher Lichter dar. Die Vorliebe des Künstlers für starke Licht-Schatten-Effekte fühlt sich angesprochen von den undefinierbaren Lichtpunkten in dunkler Nacht, der Verzauberung der Landschaft, die im nächtlichen Dunkel so vieles verschwinden lässt, was die Stimmung der Szenerie zerstören könnte. So spielen die Bilder der Serie „Nachtlicht“ von 2014 mit dem extremen Wechsel zwischen dem magischen Dunkel und den nächtlichen Lichtquellen. Von pointierten Kontrasten, dem steten Wechsel zwischen Hell und Dunkel, zwischen Geborgenheit und Himmelsweite leben auch Gemälde wie das „Große Nachtlicht“ von 2015 oder die im selben Jahr entstandenen Bilder „Nachtlicht 1“ und „Nachtlicht 4“.

Das großformatige Gemälde „o. T.“ von 2002 leitet über zu einer anderen Facette, zu einem dynamisierten Konstruktivismus, zu geometrischen Gebilden voller Bewegung, die an die Urgewalten der Natur gemahnen. Man vermeint, die Blitze der Materie zu spüren, Einblick zu nehmen in kosmische Katastrophen unvorstellbarer Dynamik. Fast zwangsläufig evoziert das Bild aber auch Anklänge an Architektonisches.

Dort, wo reale Gebäude den Ausgangspunkt der Werke bildeten, werden Details verfremdet, wird Architektur auf die wesentlichen Grundkonstruktionen reduziert, bis sie nahezu in der Abstraktion aufgehen. In der Serie „Street View“ von 2011 entfalten die Bilder wiederum einen Sog, ziehen den Betrachter förmlich hinein in ihre Welt voller Häuser, die wirken, als seien sie in einzelne Facetten, in ihre Konstruktionselemente zerlegt. Verschiedene Ansichten scheinen auch hier übereinander zu liegen. Die Bilder ähneln damit in ihren Konstruktionsprinzipien den Gemälden Lyonel Feiningers, auch wenn dessen Stadtlandschaften und Gebäudeporträts eher aus gegeneinandergesetzten Flächen und kristallinen Strukturen komponiert sind. Den Architekturbildern beider Maler ist durch ihre je besondere Komposition eine bei den Motiven eher überraschende Dynamik und Lebendigkeit eigen. Kennzeichnend für Thomas Hellinger ist zudem das gleißende Licht weit im Hintergrund der Bilder, ganz am Ende der Architekturkulissen. Diese Helligkeit, die räumliche Tiefe schafft, zieht den Blick des Betrachters automatisch an. Sie eröffnet verheißungsvolle Ausblicke, denn Licht steht für Wärme, Hoffnung, Leben.

Dass sich die Assoziationen mit den so grandiosen wie bedrückenden Architekturphantasien des römischen Kupferstechers Giovanni Battista Piranesi beim Betrachten vieler Gemälde Thomas Hellingers nicht von ungefähr einstellen, beweisen seine beiden Triptychen „Piranesi 1“ und „Piranesi 2“ von 2016, bezeichnenderweise zwei der wenigen Werke des Künstlers, die durch einen Titel hervorgehoben sind. Die Anklänge an Piranesis berühmte „Carceri“ sind unverkennbar, übersetzt in die Formensprache des 21. Jahrhunderts: Auch die modernen Stadtlandschaften mit ihren monumentalen Dimensionen, ihren abweisend-glatten Fassaden aus Glas und Stahl lassen in ihrer megalomanischen Monumentalität jedes menschliche Maß vermissen und üben gleichwohl ihre Faszination auf den Betrachter aus.

Manche Bilder wirken wie Reise-Impressionen; der Duktus der malerischen Handschrift evoziert Bewegung, die Dynamik der Wahrnehmung aus einem schnell fahrenden Zug oder Auto – die Landschaft scheint in Sekundenbruchteilen vorbeizuziehen. Die Werke halten etwas von dieser Flüchtigkeit der Eindrücke fest, die doch die Buntheit des unwiederbringlich vorbeigleitenden fremden Lebens spiegeln.

Farblich, aber auch in den Kompositionen zurückhaltender sind die Druckgraphiken Thomas Hellingers, Algrafien zumeist wie die in Kamenz ausgestellte Serie „Grenzbereich“ von 2019. Fast zwangsläufig stellt die Motivauswahl eine Nähe zum Konstruktivismus her. Das Technisch-Konstruktive überwiegt, die Architektur scheint auf das Wesentliche, die notwendigen Elemente reduziert, der Mensch ist – wie in den Gemälden – konsequent abwesend.

Reise-Impressionen sind mitunter auch hier der Ausgangspunkt, so in der „Cleveland Suite“ von 2017. Feuerleitern, Strommasten scheinen auf – auffällige Eindrücke für den deutschen Reisenden in den Vereinigten Staaten, die als pars pro toto für die in ihrer Komplexität ausgeblendeten Architekturkulissen stehen. Zugrunde lagen Spiegelungen in Wasserlachen oder Schattenwürfe auf den Straßen rund um das Atelier, das Thomas Hellinger während seines Reisestipendiums der Stadt Dresden 2017 in Cleveland nutzte – für den Künstler „ein Synonym für die Flüchtigkeit der eigenen Wahrnehmung“. Eigentlich unbedeutende, gleichwohl charakteristische Details prägten den Eindruck vor Ort und werden nun in den Mittelpunkt der künstlerischen Auseinandersetzung gerückt. In der Serie „Cleveland Window 1–4“ wird diese Herangehensweise 2018/19 auch für Gemälde aufgegriffen. Das Arbeiten in Serien zur Verdeutlichung der prägenden Facetten der vielfältigen Eindrücke ist auch hier wieder charakteristisch. In einer Hinsicht sind diese Arbeiten aber nicht typisch für das Œuvre des Künstlers: Die meisten seiner Werke kommen ohne Titel aus, laden ein zum freien Spiel der Assoziationen und der Phantasie des Betrachters, das Thomas Hellinger bewusst nicht einschränken will. Die Bilder „o. T.“ sind so einladend offen für viele Interpretationen.

Dr. Sylke Kaufmann, 2020


aus: Thomas Hellinger • Licht I Schatten I Licht
Hrsg. Städtische Sammlungen Kamenz 2020, Kleine Schriften Band 14, ISBN 978-3-910046-80-1

Dagmar Klein, Thomas Hellinger bei Baker & McKenzie, 2007

Thomas Hellinger
bei Baker & McKenzie, Frankfurt 2007

Im Zentrum steht für Thomas Hellinger der Raum. Ihn treibt die Frage um: wie wird der reale uns umgebende Raum durch Architektur erzeugt, welche Rolle spielt das Licht bei der Gestaltung des Raumes oder anders formuliert: Wie beeinflusst beides, die Architektur und das Licht, unser Erleben im und unsere Wahrnehmung von dem uns umgebenden Raum. Als Maler setzt er sich damit per Ölfarben auf Leinwand oder Papier auseinander.

Anfangs hat er ausschließlich nach der Erinnerung gemalt, indem er Eindrücke von Gebäuden und Straßen aus dem Gedächtnis in Farb-Raum-Bilder überführte. Die Grundstrukturen gab er mit Linien vor, die anschließend durch den mehrfachen Farbauftrag überlagert wurden und oft ganz verschwanden. In einigen Gemälden dominieren kristalline Formen, noch dazu in streng waagerecht und senkrecht verlaufenden Farbflächen, die zwischen Tiefenwirkung und Rückklappen in die Fläche changieren. Auf anderen Bildern lösen sich Vertikale und Horizontale in einem wolkigen Weiß auf, das an Licht durchflutete Räume erinnert; ähnlich der Lichtmystik in mittelalterlichen Kathedralen.

Perspektivische Brüche sind überall auf den Bildern von Thomas Hellinger zu entdecken. Vielschichtig sind die Überlagerungen von Ansichten und Durchblicken. Das erinnert an Bilder des Kubismus, aber auch an neue, von der Schnitttechnik des Films geprägte Sehweisen. Das Wahrnehmen der verschiedenen Seiten eines Gegenstands hat auch mit einem Standortwechsel zu tun, das heißt Bewegung im Raum ist mit thematisiert. Die schnell wechselnden, einander überlagernden Blickwinkel und variierenden Sehschärfen hat Thomas Hellinger noch weiter verfeinert.

Seit dem Jahr 2000 arbeitet er mit dem Hilfsmittel Fotografie, nicht im Sinne von Nachahmung der Realität, sondern um neue Formen zu integrieren. Zentrales Arbeitsmittel ist der bewusste Einsatz des Zufalls. Architekturfotos werden im harten Schwarz-Weiß-Kontrast per Folie auf bereits entstehende Bilder projiziert. Allerdings nur im Ausschnitt, zusätzlich gedreht oder wie es der Zufall sonst so eingibt. Dann malt er die architektonischen Elemente über die bereits vorhandenen Farb-Form-Strukturen. Und auf die dadurch erzeugte, zufällige Bildkonstellation reagiert er anschließend neu.

In den neuesten Arbeiten (ab 2006) wendet er sich mehr dem landschaftlichen Aspekt zu, was schon durch die Farbwahl deutlich wird: Grün scheint häufig hervor, aber auch Blau, das ebenso für Himmel wie für Wasser stehen kann. Die malerischen Strukturen werden immer filigraner, Licht und Farben scheinen um uns herum zu flirren.

Eines ist bei Thomas Hellinger sicher: die Sicherheit des zentralperspektivischen Betrachterstandorts ist aufgegeben, es herrscht Vielgestaltigkeit und Schnelllebigkeit – Synonym für unsere Zeit.

Dagmar Klein, M.A., 2007


Ingrid Koch, Thomas Hellinger, 2012

Thomas Hellinger

Seine Bilder erinnern an Hallen, Häusergevierte, enge Straßen oder (Wald)Landschaft. Diesen Hintergrund wird Thomas Hellinger nicht bestreiten. Gleichwohl geht es ihm nicht um Abbildhaftes, sondern um die Wahrnehmung von Raum und deren bildhafte Entsprechung.

Am Beginn seiner künstlerischen Entwicklung – studiert hat er bei Hans Baschang (München) und Raimund Girke (Berlin) – stand die Verarbeitung der Erfahrung von Stadt und Architektur. Mit breitem Pinsel entstanden davon beeinflusste, aber unbestimmte Farbräume in feiner Tonigkeit, die partiell den Charakter fast gläsern anmutender, wie von hellem Licht durchströmter Raumvisionen annahmen. Außergewöhnlich wichtig wurde 1991 ein längerer New-York-Aufenthalt, nahm der Künstler beim Durchstreifen der Straßenschluchten der Metropole doch ganz besonders die Begrenztheit einer einzelnen (Seh)Perspektive wahr. New York stieß ihn mehr als jeder andere Ort auf den Umstand, dass Wahrnehmung immer partiell ist und im Interesse einer allseitigen Sicht, also von Erkenntnisgewinn, der Verknüpfung verschiedener Perspektiven bedarf. Dies hatten in der Vergangenheit schon die Kubisten mit ihrem auf das Gleichzeitig-Sehen ausgerichteten Bildaufbau zu realisieren versucht.

Hellinger bündelt, um seinem Anliegen nahezukommen, einzelne Sehmomente, die aus verschiedenen Blick-, damit auch Bewegungsperspektiven resultieren. Ein wenig erinnert sein Vorgehen an schnelle Schnitte im Film. Ergebnis sind vielschichtige, oft lasierende Farbgebilde, die das Flüchtige des Sehens bewusst machen wollen. Dank einer beeindruckenden Transparenz wird Raumtiefe suggeriert, die von Licht respektive Gegen-licht durchflutet scheint. Beispielhaft sind etwa an umbaute Räume erinnernde Bildgefüge, in denen sich zahlreiche Perspektiven überlagern. Gleiches gilt für sein zur Sammlung der Sächsischen Landesärztekammer gehörendes Querformat, das jeden Dresdner entfernt an die Brückenkonstruktion des ’Blauen Wunders’ in Dresden-Loschwitz erinnert. Geprägt ist das Bild von immer wieder neu hervortretenden, sich teils durchstoßenden Konstruktions- Schichten, die in vielfacher Überlagerung zahlreiche mögliche Sichten einzufangen scheinen. Nicht weniger räumlich zeigen sich Naturhaftes antizipierende Bilder, die den Betrachter glauben machen, in einen dichten Wald zu sehen, in den Sonnenlicht fällt.

Ausgehend vom Anliegen, die Flüchtigkeit und Beschränktheit einzelner Sehmomente mit seiner Malerei zu überwinden, bringt Hellinger mit verschiedenen Mitteln imaginativ viele dieser Momente zusammen. So bedient er sich im Vorfeld seit seinem New-York-Aufenthalt der Fotografie. Auch bei einer Erkundungsfahrt über das ’Blauen Wunder’ um 2004 – zwei Jahre zuvor war der gebürtige Konstanzer nach Dresden gekommen – drückte er laufend auf den Auslöser. Die da und andernorts entstandenen Aufnahmen sind partiell Basis für die Herstellung von Schwarz-Weiß-Folien, die er wiederum partiell auf Leinwände projiziert – immer dann, wenn er einem entstehenden Bild eine Wendung geben will. In der Folge ergeben sich oft neue Aspekte, die er für ergründenswert hält, womit auch das serielle und gleichzeitige Arbeiten zu einem Thema erklärbar ist.

Gleichwohl – die Projektionen bleiben Hilfsmittel, was ihn von jenen Künstlern unserer Tage unterscheidet, die projizierte Bilder als Motivgrundlage nutzen. Für ihn ist der freie Farbauftrag vorrangig, weshalb bei ihm das willkürliche, zufällige Element eine größere Rolle spielt. Im malerischen Duktus wiederum steht neben eher konstruktiven Formen, wie sie durch die Beschäftigung mit Architektur angeregt sind, ein organisch anmutendes (informelles, amorphes), vom Erlebnis Natur inspiriertes Vokabular, wobei sich beide verschiedentlich miteinander verbinden.

Dr. Ingrid Koch, 2012



Aus dem Katalogbuch: Von Adam bis Zielonka • Die Kunstsammlungen der Sächsischen Landesärztekammer, Bestandskatalog der Erwerbungen 1996-2012, 2012 • S.86/87

Andreas Kühne, Multiple Horizont, 2000

Multiple Horizonte

Zu den Bildern von Thomas Hellinger

In einem erhellenden Aufsatz, den Lothar Romain 1995 anlässlich einer Ausstellung der Klasse Hans Baschang in der Frankfurter Galerie Timm Gierig verfasst hat, heißt es: „Zweifellos haben wir die Malerei in diesem Jahrhundert mit vielen Ansprüchen malträtiert, die sie auf Dauer nicht einlösen konnte, vor allem immer dann, wenn es darum ging, die Wirklichkeit des Bildes als das einzig wahre Bild von Wirklichkeit auszugeben, sei es nun als das Wesen der Dinge, als das Innerste des Subjekts oder als Widerspiegelung von Wirklichkeitsstrukturen.“

Die Bilder von Thomas Hellinger zeichnen nicht das einzig wahre Bild von Wirklichkeit, noch erheben sie den Anspruch darauf. Doch sie evozieren - und darin liegt eine ihrer besonderen Qualitäten - ein intimes und intensives Verhältnis zu Zeit und Raum. Zeit realisiert sich bei der Wahrnehmung dieser statischen Bilder, die sich nicht bewegen, die die Bewegung uns, den Betrachtern, zuweisen.

Der rasend schnelle Wechsel der Blicke, Orte und Schauplätze, der für die Postmoderne symptomatisch geworden ist, bedarf der Ruhepole, auch und gerade der bildnerischen, um unseren geistigen Stand-Ort zu überprüfen und in Frage zu stellen. Uns, die wir dem weit Entfernten häufig viel näher sind als unseren Nachbarn, trotzen diese Bilder einen Moment der Muße ab.

Untrennbar verbunden mit einer möglichen anderen Zeiterfahrung, die von den Bildern Thomas Hellingers hervorgerufen wird, ist eine Raumerfahrung. Thomas Hellinger hat Bildräume geschaffen, die zuweilen an Landschaften erinnern. An Stadtlandschaften ebenso wie an einfache, tektonisch gebaute, archaische Täler und Gebirge. Die Frage, wie die Dinge im Raum stehen, ist eine Frage, die ihn bei der Arbeit am Bild ständig begleitet.

Bevölkert sind diese abstrakten Räume nicht. Sie leben auch nicht von der Erwartung, dass in jedem Augen-Blick – wie von Geisterhand bewegt – die dazugehörige „personnage“ auftauchen könnte. Tektonisch gestaffelte Flächen und Formen schaffen Tiefenräume, Durchbrüche, Abgründe, Wälle und Mauern. Die Vorder- und Hintergründe sind nie deutlich voneinander geschieden, sie durchdringen sich, wechseln einander ab und überlagern sich. Zwischen ihnen hin- und herpendelnd kann der Blick des Betrachters verharren oder sich verirren. Das simultane Nebeneinander und Hintereinander verschiedener Perspektiven vermittelt ihrer Darstellung manchmal eine fast magische Kraft.

Realisiert werden diese Möglichkeiten von Zeit- und Raumwahrnehmung durch Farbe und Form. Besser gesagt durch Farb - und Formmodulationen, durch Farbböden, Farbhorizonte und Farbarchitekturen. Bausteine die es uns - den Betrachtern - ermöglichen, uns selbst durch ihre Wahrnehmung näher zu kommen, indem wir uns annähernd verändern.

Prof. Dr. Andreas Kühne, 2000


Aus dem Katalogheft anlässlich der Ausstellung in der Galerie im Kreishaus - Wetzlar im Jahr 2000

Franz Littmann, ​Flüchtige Bewegungen zerstören die vertraute Sicht der Welt, 2007

Flüchtige Bewegungen zerstören die vertraute Sicht der Welt

Die Guckkastentheorie, auf die sich die abendländische Kunst seit der Renaissance stützt, stellt sich den Betrachter als unbeteiligten »Ab-Bilder« vor, der jedem Gegenstandspunkt einen Bildpunkt zuordnet. Über den Haufen geworfen wurde diese Auffassung zum ersten Mal vom Kubismus. Ab sofort gab es keinen unveränderlichen, alles erfassenden Blickpunkt mehr. Stattdessen wurden viele Beobachtungen gleichzeitig angestellt. Der Bildbetrachter war nicht mehr bloßer Registrator von Sinnes- und Wahrnehmungsdaten, sondern musste, wie in der naturwissenschaftlichen, experimentellen Forschung, Berechnungen anstellen, Beobachtungen vergleichen und Schlüsse ziehen.

Diese Dekonstruktion des perspektivischen Blicks wurde durch den Film gesteigert. Wenn man es etwas zuspitzt, könnte man das Kino als Schule einer »beweglichen Wahrnehmung« bezeichnen. Das Kino mit seinem stoßweisen Rhythmus, seinen Überblendungen, Schnitten, Montagen, Zeitverschiebungen usw. zerstört die traditionelle Wahrnehmung der Wirklichkeit. Damit sich die Ereignisse des Films konturieren, d.h. einen Zusammenhang ergeben, muss der Betrachter sich gewissermaßen sein eigenes »Bild« machen, wobei das Entscheidende nicht auf den vorgeführten Bildern, sondern im Menschen selbst passiert. Der Ort der Bilder, behauptet der Karlsruher Kunsthistoriker Hans Belting, ist der Mensch.

Genau diese Inversion der Wahrnehmungseinstellung ist ein charakteristisches Merkmal der Malerei von Thomas Hellinger. Ähnlich wie ein Regisseur, der mit Hilfe von verstellbarer Linse, Zeitlupe, Zeitraffer usw. eine ebenso sprunghafte wie unbeständige Wahrnehmungsbeweglichkeit herausfordert, aber auch das Material liefert für neue und unbekannte Imagnationen, liquidiert auch Thomas Hellinger mit seinen Bildern eine vorprogrammierte Sinndeutung.

Erzielt wird diese Liquidation (im Sinne von Verflüssigung) durch einen gewissermaßen doppelten Blick. Hellingers Malerei zeigt nämlich sowohl das Gewohnte, das Vertraute, das Bekannte; aber auch eine Wirklichkeit, die wenig greifbar ist. Eine Realität, die so flüchtig und abgründig ist wie das Schweigen, der Atem, der Rauch, der Nebel...

Was Thomas Hellinger parallel zur gewohnten und vertrauten Wirklichkeit zum Vorschein bringt, ist jedoch keine utopische Gegenwelt, kein unbekanntes Nirgendwo, kein Nirwana. Sondern eine zweideutige Zwischenwelt. Das Vertraute und das Unbekannte gleiten ineinander bzw. scheinen auf derselben Ebene zusammenzufallen.

Das Betrachten dieser Bilder entspricht einem flüchtigen Erinnern. Unbestimmte Linien und Farbflächen werden mit architektonischen oder landschaftlichen Aspekten verknüpft. Wie in der Hypnose, im Delirium oder im Halbschlaf scheitert das Wiedererkennen, so sehr man sich auch bemüht.

Aber genau auf dieses Scheitern kommt es Thomas Hellinger an. Weil das »normale« Registrieren von Sinnes- und Wahrnehmungsdaten scheitert, wird die vertraute Sicht der Welt zerstört. Indem er wie ein Filmregisseur mit Überblendungen, Doppelbelichtungen, Überlagerungen, Spiegelungen und Verschleierungen operiert, gelingt ihm eindrucksvoll die Inszenierung ebenso leerer wie diffuser Traumbilder. Farbflächen bzw. Farbübergänge, die ein bekanntes Etwas (Gebäudefragmente, Fenster, Straßenschluchten, Landschaften, Wälder...), das aber undeutlich bleibt, verdecken: Was passiert, ist eine Gleichzeitigkeit von Erkennen und Wiedererkennen für die kurze Dauer eines Augenblicks.

So wie nur das Abwesende Gegenstand der Imagination sein kann, provoziert das Wechselspiel von labiler Klarheit und traumhafter Vorspiegelung jenen Zustand, in dem der Mensch, wie man so schön sagt, geistesabwesend ist. Darum geht es: Der Betrachter soll sich, sein Selbst, verlieren; ohne Überblick sein; sein Kontroll-Ich verabschieden, in den Zustand des Trödelns geraten. Er soll abdriften in den Bereich des Unwirklichen, d.h. des Möglichen. Ohne sicheren Standort.

Der Betrachter muss das Wahrnehmen wahrnehmen, er muss die Spaltung seines Blicks reflektieren, auch die Tatsache, dass es nur wenig zu identifizieren gibt. Gerade dann, wenn Architekturfragmente, urbane Situationen oder Landschaften auftauchen, verstärkt sich der Eindruck, die Sprache dieser Bilder zwar nicht zu kennen, aber doch gut zu verstehen. Man spürt unwillkürlich, dass der Wechsel zwischen Ordnung und Chaos eine Erfahrung jenseits der alltäglichen Wirklichkeit ermöglicht: »Jene ursprüngliche Unordnung, in deren unaussprechlichen Widersprüchen Raum, Zeit, Licht, Möglichkeiten und Wirkungskräfte noch unentfaltet lagen«.1

Einerseits fordert Hellingers Malerei zur Geistesabwesenheit, andererseits aber auch zur Vergegenwärtigung von früher Gesehenem heraus. So wie jemand, der eine bereits gehörte Melodie oder einen schon einmal eingeatmeten Duft wahrnimmt. Der also eine kurze, aus der Ordnung der Zeit herausgehobene Episode erlebt. Ein déjà-vu-Erlebnis, das für einen kurzen Glücksmoment sorgt. Das kann auch vor Hellingers Bildern passieren, die jenen gleichen, »die man manchmal im Augenblick des Einschlafens angesichts einer unaussprechlichen Vision verspürt«.2

Dr. Franz Littmann, 2007


1 Paul Valery, Werke, Bd. 2, S. 275
2 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, S. 3956

aus: Thomas Hellinger • Flüchtige Raumsequenzen, Katalog anlässlich der Ausstellung im KV Hochrhein, 2007

Lothar Romain, 1993

Die Malerei von Thomas Hellinger ist im originären Sinne eine abstrakte, die sich von gegenständlichen Motiven gelöst hat zugunsten eines rein aus dem Malen heraus entwickelten Farb- und Formvokabulariums, das sich zum Bild zusammenfügt. Und doch machen diese Bilder eindringlich deutlich, dass sie auch der Anschauung einen Teil ihres Daseins verdanken und im ’abstrakten’ Umgang damit den Betrachter wieder zur Anschauung zurückführen – allerdings einer geläuterten, die auf den Bauplan und seine Möglichkeiten jenseits der gewohnten gegenständlichen Erscheinungsformen gerichtet ist.

Das gemeinsame Motiv der Bilder ist im weitesten Sinne die Stadt und ihre Architektur, ihr Sujet ist die Malerei als ein Kontrastieren und Zusammenspielen von festen und offenen Farbformen, als die Entwicklung von virtuellen, nicht illusionistisch gemalten Bildräumen aus hellen und dunklen, warmen und kalten Farbschichten und somit das Ereignis Stadt transformiert in das Ereignis einer eigenständigen, nur der Leinwand gehörigen Farbarchitektur. Diese ist anders als die des realen Alltags befreit von Zufälligkeiten, entsteht aus einem ebenso komplexen wie zugleich luziden Agieren und Reagieren von Formen und Farbe, von gerüstartigen linearen Elementen, die die Farbfelder konstruktiv ordnen, ohne ihnen jedoch dadurch eine bloß äußere Gliederung überzustülpen. Die Anregung zu flächig räumlichen Ordnungen mag aus der Anschauung kommen – ein Stipendium in New York hat Thomas Hellinger zweifellos in seinem Interesse bestärkt und gefördert –, aber die Wirklichkeit des Bildes ist seine pure Malerei.

Hier geht es um das Durchdringen, Überlagern oder Offenlegen unterschiedlicher Farben und Farbmodulationen. Mit breitem Pinsel entscheiden aufgetragen, dann wieder einen Anteil weggenommen, so dass tiefere Schichten durchscheinen, erneut mal kräftiger, mal hauchdünn und als ein Schleier überlegt, wie aus kleineren und größeren Malbausteinen zu einem vielschichtigen Gebilde zusammengefügt entsteht aus der Fläche eine Bildraumarchitektur. Ihre Orte sind nicht eindeutig festzulegen, ob Nähe oder Halbdistanz, oben oder unten, vorne und hinten: manchmal scheinen die Gebilde zu schweben, manchmal fest im Farbboden fundamentiert.

Dieses Wechselspiel einer im wörtlichen Sinne freien Bildarchitektur entwickelt sich bei allem Kontrast zwischen hell und dunkel aus einer eher gedämpften Farbpalette, die nicht mit lauten Gegensätzen arbeitet. Der Maler bevorzugt die Modulationen, die eine Farbe in ihren unterschiedlichen Tonqualitäten präsentieren, verwandtschaftliche Übergänge, wenn rot über Orange nach einem dunklen Gelb tendiert und auf Grund des durchscheinenden tiefer liegenden Blau das Grün vorbereitet wird, das sich zu neuen Bausteinen herausbildet.

Prof. Lothar Romain, 1993


Veröffentlicht in:
Faltblatt: KN neu 93, Kunstverein Konstanz, 1993
Katalog: Thomas Hellinger, Galerie Markt Bruckmühl, 1998

Verena Schneider, Thomas Hellinger: Licht I Schatten I Licht, 2020

Thomas Hellinger: Licht I Schatten I Licht

„Licht I Schatten I Licht“, so hat Thomas Hellinger seine Kamenzer Ausstellung betitelt. Die beiden Pole „Licht“ und „Schatten“ durchziehen nicht nur seine Werke und sind maßgebliche Bestandteile von deren Entstehungsprozess, sie verweisen zugleich auf ein genuines Phänomen der Malerei, das auch die Anekdote über den Ursprung dieser Kunst prägt, die Plinius der Ältere, ein römischer Gelehrter des 1. Jahrhunderts, im 35. Buch seiner Historia naturalis erzählt: Debutades, heißt es dort, die Tochter eines Töpfers aus dem griechischen Korinth, habe vor der Abreise ihres Geliebten seinen Schatten, den das Licht einer Kerze auf eine Wand warf, mit einem Stift nachgezeichnet, um ihren Gefährten so während seiner Abwesenheit bei sich zu haben.

Licht und Schatten sind auch jenseits dieser Anekdote der Malerei gewissermaßen genetisch eingeschrieben. Dazu kommt ein physikalischer Aspekt: Die Farben eines Bildes sind nur mit Hilfe von Licht wahrnehmbar: Je nach dem Grad der Lichtabsorption erscheinen sie in einem bestimmten Farbton.

Die Anekdote des Plinius – ein Topos der Kunstgeschichte – spricht jedoch noch eine weitere essentielle Fragestellung der Malerei an, die auch in den Bildern Thomas Hellingers wiederkehrt: die Frage nach dem Verhältnis von Bild und Abbild. Während eines Stipendienaufenthalts in New York 1991/92 erhielt der Künstler entscheidende Impulse für sein späteres Schaffen: Die Erkundungsgänge durch die Stadt mit ihren immensen, von Wolkenkratzern gebildeten Straßenschluchten entfachten in ihm ein ausgeprägtes Interesse an Architektur und Raumsituationen. Zugleich machte er die Erfahrung, dass es unmöglich sei, diese Räume mit einem Blick zu erfassen, auch weil sich seine Seherlebnisse im Gehen fortwährend veränderten.

In der Folge entstanden zunächst aus der Erinnerung heraus gemalte Raumgefüge. Sie setzten sich aus farbigen Flächenkompartimenten zusammen, deren Disposition Thomas Hellinger im Vorfeld durch Linien auf der Leinwand grob skizzierte. Es ging und geht dem Künstler dabei weder darum, illusionistische Räume mit der in der Renaissance eingeführten Zentralperspektive darzustellen, noch um das „Porträtieren“ konkreter Architekturen. Vielmehr war und ist es sein Ziel, auf der Grundlage architektonischer Strukturen bildimmanente Kompositionen zu entwickeln, bei denen offene, polyfokale Raumsituationen, also Raumsituationen mit mehreren simultanen Fluchtpunkten, entstehen.

Die Malerei hat in ihrer langen Geschichte viele verschiedene Arten von Perspektiven hervorgebracht, was auch als Gradmesser für ihre elementare Rolle in der Kunst aufzufassen ist: Die mittelalterliche Bedeutungsperspektive beispielsweise zeigt Figuren, Tiere und Gegenstände je nach Gewichtung groß oder klein. Im Kreis um Albrecht Altdorfer bedienten sich im 16. Jahrhundert etliche Maler der Farbperspektive, bei der Bildgegenstände desto mehr mit blauen Farbanteilen angereichert werden, je weiter sie vom Bildvordergrund entfernt sind. Das Ende der jahrhundertelangen Dominanz der Zentralperspektive, bei der die Darstellung auf einen Fluchtpunkt konzentriert ist, läuteten die Kubisten um Pablo Picasso zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein. Sie gaben einen Gegenstand oder eine Figur in ein und demselben Bild aus unterschiedlichen Perspektiven wieder und führten so eine Auflösung der stabilen Raumkontinuität im Bild herbei – ein Verfahren, das dem Auge wenig Halt bietet und das in Thomas Hellingers Bildern nachklingt.

Im Jahr 2000 veränderte der Künstler den Prozess der Bildfindung: In Folge der Beschäftigung mit drucktechnischen Verfahren wich das Arbeiten mit Bruchstücken aus der Erinnerung der Verwendung von Fotografien als Bildvorlagen. Der erste Impuls für Thomas Hellingers Werke entsteht also nicht aus einer Innenschau, sondern von außen durch Eindrücke aus der realen Umgebung, die er auf Streifzügen und Reisen gewinnt. Über die Jahre hin ist so ein gewaltiger Fundus an Fotografien gewachsen, der sich zunächst ausschließlich aus Architekturmotiven wie Straßenschluchten, Raumgefügen oder Brücken speiste und erst in jüngerer Zeit um landschaftliche bzw. vegetabile Motive erweitert wurde.

Die fotografischen „Abbilder“ (um in der Sprache des Plinius zu bleiben), werden von Hellinger zunächst am Computer stark bearbeitet, indem er Details eliminiert und Bildausschnitte fragmentiert, bis lediglich Grundstrukturen verbleiben. Die überarbeiteten Fotos – von denen es jeweils eine Positiv- und eine Negativansicht gibt – werden anschließend auf Transparentfolie kopiert, diese auf die Leinwand projiziert und wesentliche Strukturelemente der Projektionen flächendeckend mit Pinsel und Farbe auf dem Bildträger fixiert. So entsteht ein kompositorisches Grundgerüst, das einen intensiven malerischen Prozess auslöst, in dessen Verlauf Thomas Hellinger sukzessiv neue Bildstadien mit Hilfe weiterer Projektionen derselben oder auch neuer Motivvorlagen erzeugt.

Entscheidend für die endgültige Bildfindung ist das Ausloten eines Kippmoments, bei dem das Ursprungsmotiv gerade noch wahrgenommen werden kann, aber so lange malerisch überarbeitet wurde, bis sich alles in der Wahrnehmung des Künstlers zu einem bildimmanenten Ganzen verdichtet. Die Identifizierbarkeit der Grundmotive spielt dabei keine Rolle.

Um diesen Moment zu erreichen, setzt Hellinger häufig helle und dunklere Farben gegeneinander – ein Lichtspiel, das eine optische Wegführung vom ursprünglichen Motiv impliziert und räumliche Tiefe suggeriert. Zur Steigerung dieses Effekts trägt er in vielen dünnen Lasuren helle Farben auf und verwendet vielfach Weiß, sodass die Bilder lichtdurchflutet und wie von hinten beleuchtet wirken. Durch das Weiß scheinen zudem tieferliegende Farbschichten hindurch. Durch die sich vielfach überlagernden Motivfragmente und den Wechsel der Perspektiven entstehen Unschärfe und Labilität, was den Bildern eine Uneindeutigkeit, eine Offenheit verleiht und sie in eine Art Schwebezustand versetzt.

Die ehedem im Zuge der Beschäftigung mit Drucktechniken entwickelte künstlerische Strategie Hellingers findet seit kurzem ihren Niederschlag in einem von ihm erst jüngst entdeckten Medium, den Algrafien. Algrafien – das Wort ist aus dem Substantiv „Aluminium“ und dem griechischen Verb „graphéin“ (= „schreiben“) zusammengesetzt – entstehen wie Lithografien in einem Flachdruckverfahren, bei dem das Motiv – bei Hellinger am Computer bearbeitete Schwarz-Weiß-Fotos – auf ein speziell gekörntes Transparentpapier kopiert wird, das dann auf eine mit lichtempfindlicher Schicht präparierte Aluminiumplatte belichtet wird. Die von Hellinger verwendeten Fotos unterscheiden sich dabei nicht von den für die Malerei genutzten. Auf das Transparentpapier kann aber auch direkt mit Bleistift oder Tusche gezeichnet werden. So entstandene Interventionen werden dann wie die Kopien der Fotos belichtet.

Wie bei seinen Gemälden legt Thomas Hellinger auch bei den Druckgrafiken collageartig mehrere Fotos übereinander und greift schließlich malerisch oder zeichnerisch ein, bis sich ein Bild ergibt, das die Ursprungsmotive gerade noch erahnen lässt. Die Algrafien haben jedoch eine andere ästhetische Wirkung als die Gemälde: Durch den Wegfall der in vielen Schichten übereinandergelegten, visuell erfassbaren Lasuren wird ein tendenziell opaker und weniger expressiver Eindruck erzielt. Über den Arbeitsschritt des Belichtens sind die Algrafien gleichwohl eng mit der Dialektik von Licht und Schatten verknüpft, die im Ausstellungstitel anklingt.

In der in Kamenz ausgestellten Serie „Grenzbereich“ spitzt Thomas Hellinger das Spiel von Bild und Abbild zu, indem er eine weitere Dimension hinzufügt: Auf den Algrafien sind Fenstermotive erkennbar, in denen sich der Innenraum, aus dem offensichtlich fotografiert wurde, schemenhaft spiegelt.

Verena Schneider, 2020


aus: Thomas Hellinger • Licht I Schatten I Licht
Hrsg. Städtische Sammlungen Kamenz 2020, Kleine Schriften Band 14, ISBN 978-3-910046-80-

Martin Schönfeld, Zu Thomas Hellinger, 2011

Zu Thomas Hellinger:

Das Rückgrat der heutigen Ausstellung sind vor allem die großformatigen, lichtvollen und von vielfältigen künstlerischen Reflexionen bestimmten Malereien von Thomas Hellinger, die in beiden Ausstellungsräumen vertreten sind.

In seinen Werken wirft der Künstler die Frage der Wahrnehmung auf. Seine Malereien stellen den Betrachter auf die Probe: sie eignen sich nicht als ein oberflächliches Ornament und für das Betrachten im Vorübergehen schon gar nicht. Sie erschließen sich erst im Prozess eines konzentrierten Schauens. So ist die Zeit den Malereien eingeschrieben und das Sehen ist ein Prozess und manifestiert sich in dieser Weise in der Kunst selbst.

Auch wenn Hellinger in vielen seiner Werke an eine Grenze der optischen Erschließbarkeit vorstößt und sich manchmal auch dem Kontinuum des Informellen, vielleicht auch der Camouflage und vor allem der freien Malerei annähert, so ist der Ausgangspunkt seines bildnerischen Denkens doch sehr konkret. Seine Inspiration findet der Künstler in den Städten und ihren räumlichen Strukturen, an Gebäuden und auch eher technischen Bauwerken und ihren konstruktiven Elementen. Diese Eindrücke verarbeitet Hellinger aber nicht im Sinne einer Vedute – also einer klassischen, panoramahaft ausgebreiteten Stadtansicht, die ja gerade für Hellingers Wohnort Dresden in den Werken von Bernardo Bellotto (genannt Canaletto) so bekannt und unsterblich geworden sind. Konkrete Orte werden gerade nicht vorgestellt. Mit motivischen Überlagerungen und im künstlerischen Prozess einer sowohl konstruktiv als auch expressiv angelegten Malerei schafft Hellinger neue Bildräume von einer verwirrenden und damit überraschenden Komplexität, die über eine Vexierbildhaftigkeit weit hinausreichen. Helligkeitskontraste tragen sowohl zur Konstruktion der Räumlichkeit wie aber auch zur Verunklärung und partiellen Auflösung der räumlichen Strukturen bei. Formal entsteht auf den Bildflächen eine Simultaneität von Offenheit und Geschlossenheit, die von einer permanenten Aktion und malerischen Reaktion im Gestaltungsprozess zeugt. Hellingers Werke verlieren sich aber nicht im Sphärischen. Der Künstler zielt mit seinen Malereien auf die Schaffung eines überzeugenden, eines kräftigen Bildes, eines Werkes im Sinne eines Kunstwerkes. Das Bild muss eine Präsenz als ein optisches Phänomen erreichen, und erst dann ist das Werk auch vollendet.



Der Text ist Teil der Eröffnungsrede anlässlich der Gruppenausstellung: ’Doppelte Schraube’ in der Temprären Kunsthalle des vdek, Berlin 2011

Eva-Maria Schumann-Bacia, Die „Bilder“ von Thomas Hellinger, 1994

Die „Bilder“ von Thomas Hellinger
Eröffnung zur Ausstellung in der Galerie Waltraud Zimmermann am 23. Januar 1994


Meine Damen und Herren,

versuchen wir, uns langsam, Schritt für Schritt und Schicht um Schicht, von Außen her an die Bilder von Thomas Hellinger heranzutasten.

Vor sich sehen sie hier in der Hauptsache große Formate, Arbeiten in Öl auf Nessel. Es lassen sich darin, obwohl alle diese Bilder aus den letzten 3 Jahren stammen, beinahe zwei Werkgruppen ausmachen, hier in den ersten und zweiten Galerieraum aufgeteilt. Im vorderen Raum finden sich ganz junge, gelöst abstraktere Arbeiten von 1993, in denen in erster Linie Lichtwirkungen in Hell- und Dunkelgegensätzen artikuliert sind und die Einzelkonturen aufgelöst und diffuser wirken, während hier im großen hinteren Raum die etwas älteren Arbeiten aus den Jahren 1991/1992 versammelt sind. Sie erscheinen gegenüber den ganz neuen Arbeiten noch wesentlich massiver. Konkretere Konstruktionen, die an gebaute Architekturen erinnern, geben dem Blick Halt, laden zu seinem Verweilen ein mit dieser kräftigen, fast bunten Farbigkeit.

Insgesamt aber lässt sich festhalten: Alle Bilder dieser beiden Räume haben eines gemeinsam. Sie leben aus dem Antagonismus von Linie und Fläche, von Zeichnung und freier Malerei. Man kann noch weiter gehen: Der Gegensatz von graphisch strengem Kalkül abgezirkelter Linien und farblich schwelgender Opulenz des Malvortrags bewirkt gerade die besondere Spannung, das auf den ersten Blick „Unerlöste“ in dieser Malerei von Thomas Hellinger.

Vielleicht sei an dieser Stelle ein Ausflug ins Biographische erlaubt. Thomas Hellinger, 1956 in Konstanz geboren, studierte an der Akademie der Bildenden Künste in München bei Hans Baschang, setzte sein Studium fort an der HdK Berlin bei Raimund Gierke. Heute ist er Assistent bei Baschang in München. Ohne Hellingers Eigenständigkeit in irgendeiner Weise schmälern zu wollen, lässt sich sagen, dass sicher Einflüsse gerade im zeichnerischen Element seines Werks von Seiten seines Lehrers Baschang zu finden sind, der gezeigt hat, wie sich das Zeichnen mit der Malerei berührt. Auch in der Transparenz der bei Hellinger durchaus geometrisch/stereometrischen Formen, die die Sicht auf Inneres, wie auch immer man das zunächst definieren mag, gewähren, liegen Verwandtschaften zu Baschang. Hingegen erinnert der sichtbare, durchweg breite Pinselduktus, der sich oft genug in nie massiv werdenden Schichten überlagert und die Materialhaftigkeit des Malgrunds der Leinwand bis an die Oberfläche dringen lässt, an Raimund Girke.

Aber was ist nun, abgesehen von diesen formalen Anklängen und über die schon angesprochene „Grundspannung“ hinaus das Besondere an Hellingers Bildern?

Ich sagte es schon: Anschauliches, Klötze, kubische Blöcke wie Hausarchitekturen halten den Blick fest in diesen älteren Arbeiten. Vertikal gesetzte, bildparallele Flächen mit ihren diagonal verlaufenden Kanten schaffen diese Plastizität, schaffen Tiefenraum, lassen den Eindruck von Türmen entstehen, die sich fest in den Boden zu stemmen scheinen, während sie an anderer Stelle wie schwebend wirken. Starke Grenzlinien in der Farbe bilden Grate, lassen durch Änderung des Richtungsverlaufs Körper entstehen, die sich überlagern, nach hinten staffeln und wie in Spiegeln oder Glasscheiben aufgesplittert zu kristallinen Facetten brechen. Mit ihnen erschließen sich immer neue Ebenen parallel zum Schichtcharakter der breit aufgetragenen Pinselbahnen. Je länger man hineinschaut in die Bilder, desto mehr Schichten entdeckt man also. Das heißt: Der Zeitfaktor spielt eine Rolle. Man nehme sich darum Zeit zum Schauen!

Die Variationen über das Thema: Raumbauende Flächen korrespondieren mit dem Variantenreichtum der Farbzusammenstellung der Grundfarben, die sich vermischen und komplementär immer neue Farben ergeben. Sie sehen beispielsweise hier ein Gelb, ein Rot ein Blau das durch Mischung dies dunkle Grün, Orange, Lila ergibt. Oft entstehen dadurch „schöne Stellen“ wunderbarer Farbmodulationen.

Wo aber lässt Thomas Hellinger dem Pinsel freien, “informellen“ Lauf? Hier und da lässt er Farbe tröpfelnd verlaufen, Spuren zeigen an, dass er die Bilder auch dreht, manchmal sehen wir spontan gesetzte Pinselschwünge, die aber bald umbrechen, abrupt abbrechen – das rationale Prinzip trägt eben doch den Sieg über den informellen Zug in diesen Arbeiten davon.

Der Farbgewalt, immer wieder im Zaum einer Ordnung gehalten, werden zusätzlich Linien gegenübergestellt, die sie durch ihr mehr oder weniger enges Geflecht in ihrer Entfaltung bremsen und auch die raumbauenden Elemente immer wieder in die vorderste Bildebene zurückholen. Diese Vernetzungen bilden die kompositorische Verankerung in der Fläche. Linien formieren Kanten wie die von Würfelformen, scheinbar willkürlich über andere Strukturen gesetzt und mit diesen durchaus nicht deckungsgleich, und geben den Blick frei in ihr Inneres, das transparent bleibt: Wir sehen auf ihre Grundfläche ebenso wie auf ihre rückseitige Fläche. Diese wie übergeblendeten stereometrischen Elemente dienen so ebenfalls einer rationalen Rückkopplung, wenn die Farbe zu emotionsgeladen auftritt.

All dies erscheint wie eine Artikulation des Problems, das Bildfläche per se in sich trägt: Eine Artikulation der Spannung, die sich ergibt zwischen der eine Objektivität verbürgenden Umrisslinie der Bildkante und der eigentlichen Bildfläche, die, tiefenräumlich nicht fassbar, beliebig bespielbar ist, die in einen imaginären Tiefenraum führen kann, die aber ebensogut auch flächig in Erscheinung treten kann und deren unfassbarer Grund doch nie ganz auslotbar ist.

Diese Situation ist in Hellingers Bildern exemplarisch durchexerziert in immer neuen Varianten. Die Leinwand klappt sich, fächert sich gleichsam in immer neuen, tieferen Schichten auf, um doch am Schluss alles wieder in die Fläche zurückzuholen. Thomas Hellinger zeigt uns, wie ein objektives Außen mit möglichem Inneren gefüllt werden kann durch Flächen, die zu Räumen werden, weil sie Kanten bilden und Innenräume wie Architekturen umschließen, gibt eine bildhafte Veranschaulichung dessen, was eine Bildfläche zu leisten imstande ist. Aber die linearen Umfahrungen über den malerischen Flächen innerhalb der Bilder wiederholen die Kantenform der Leinwand, weisen immer wieder auf diese äußere Gegebenheit hin, zerschlagen die Illusion von Dreidimensionalität und entsprechen damit der Zweidimensionalität der Bildflächen.

Auch bei den neuesten Arbeiten können wir das alles noch nachvollziehen, auch noch da, wo der lange Prozess der Schicht auf Schicht ruhenden, fast immateriellen Farbe ein dichteres Gewebe von Strukturen schafft, zu Lichtinseln sich verdichtet, in horizontalen Kippflächen zentriert über einer Modulation eines gelb-lila-Farbkontrasts. Er, Thomas Hellinger, der die leere Leinwand zunächst immer mit einem Liniengerüst ausmaß - er lässt jetzt die Helligkeit als Hauptmodulator gelten. Die extreme Spannung dieser Dichotomie von raumbildend und flächig löst sich in die von Hell und Dunkel, von Lichtkontrasten auf, sie führt aus dem Bild heraus direkt ins Auge des Betrachters, löst dort als Lichtwirkung Empfindungen aus. Solchermaßen „erlöst“ Thomas Hellinger selber sine Bilder, er befreit sie gleichsam aus ihrer realen, zwangsläufig Widersprüchliches beinhaltenden Bedingtheit.

© Dr. Eva-Maria Schumann-Bacia, 1994

Hanne Weskott, Der Raum ist der Gegenstand, 1999

Der Raum ist der Gegenstand

Für Lyonel Feininger galt die „Aussenwelt als unerschöpfliche Schatzkammer der Form und Anregung zu allem Geschaffenen“ (Brief an J. Kleinpaul 1932). Er skizzierte vor Ort und arbeitete nach Fotografien, was ihm viel Mühe machte, denn „beim Zeichnen vor der Natur erfolgt sofort eine gewisse Auslese.“ Dieser erste Abstraktionsprozess erleichterte die darauf folgende Bildgestaltung, in der er sich von der unmittelbaren Anschauung entfernte. Von Max Bills Dogma der konkreten Kunst, dass Konkretion „Gegenständlich-Machung von etwas“ ist, „das vorher nicht sichtbar, nicht greifbar vorhanden war“, war Feininger allerdings ebenso weit entfernt wie von einer realistischen Darstellung des Gesehenen. Er wollte mit seiner Kunst „eine neue, innere Wirklichkeit auf einer höheren Ebene schaffen“, während die Konkreten darauf bestanden, dass „ein bildnerisches Element nichts anderes als nur sich selbst bedeutet“: Ein Bild besteht aus Farben, Flächen und Leinwand.

Thomas Hellinger würde Letzterem sicher zustimmen. Seine Farben haben ebensowenig symbolischen Wert wie seine Formen an einen konkreten Gegenstand erinnern. Malerei bedeutet für ihn eine bildimmanente Arbeit. Trotzdem verweist er gerne auf den prägenden Eindruck für seine Kunst, den die dichte Hochhauslandschaft New Yorks auf ihn gemacht hat. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich bei genauerer Betrachtung leicht, zumal er sich nie der konkreten Kunst verpflichtet gefühlt hat. Allerdings hat er auch nie gegenständlich gearbeitet. Seine Malerei ist weder eine „sinnlich fassbare Darstellung eines Gedankens“, wie Max Bill fordert, noch ein echter Abstraktionsprozess im Sinne von Feininger. Aber dennoch lebt er nicht mit geschlossenen Augen und kann sich von der „unerschöpflichen Schatzkammer der Aussenwelt“ inspirieren lassen, ohne gegenständlich im landläufigen Sinne zu werden. Nicht zu übersehen ist jedenfalls, dass das architektonische Element in Hellingers Malerei seit jenem New York Aufenthalt an Bedeutung für den Bildorganismus gewonnen hat. Kubisch wirkende, ineinander verschobene Farbflächen wachsen aus dem Dunkel in eine durchlichtete Zone, in der sich trotz aller Transparenz die festgefügte tektonische Ordnung nie ganz auflöst. Das erinnert durchaus an den Eindruck, den man von den engen dunklen Strassenschächten zwischen den Wolkenkratzern hat, wenn man in die Sonne sieht und alle feste Kontur zu verschwimmen droht.

Jenseits von diesem einschneidenden Erlebnis in New York muss aber betont werden, dass Thomas Hellingers Bilder nie locker aus dem Handgelenk entstanden sind. Malen bedeutet für ihn nicht die Niederschrift von Gefühlen irgendwelcher Art, sondern die Auseinandersetzung mit dem lebendigen Organismus Bild, der sich durch seine Eingriffe stetig wandelt. Es ist eine Form von Zwiesprache, die er mit einem Pinselstrich zum Verstummen bringen und auch wieder zum Leben erwecken kann. Bevor er aber zum Pinsel greift, teilt er mit der Kohle die leere Leinwand ganz grob in Flächenkompartimente ein, mit denen er bereits eine gewisse Räumlichkeit assoziiert. Die Linie ist für ihn gleichbedeutend mit Ordnung und ohne diese Voraussetzung kann er nicht beginnen. Er folgt ihr allerdings nicht sklavisch, sondern bricht sie auf, wenn sie sich zu sehr verfestigt. Auch wenn für ihn der Raum der eigentliche Gegenstand seiner Malerei ist, begreift er diesen keineswegs als etwas Statisches: „Wenn ich mich bewege, dann bewege ich mich im Raum“. Somit liegt für ihn die innere Notwendigkeit eines jeden Bildes im räumlichen Zusammenhang. Es geht darum, diesen auf den Punkt zu bringen, „in dem dieser von der Wahrnehmung her in Bewegung bleibt“. Er will also nicht den illusionistischen Raum perspektivisch darstellen, sondern Räume schaffen, deren Definition offen ist. Es gibt also nicht den einen Fluchtpunkt für das Auge, sondern viele. Aber diese müssen so angelegt sein, dass sie sich in der Bewegung immer neu erschliessen.

Der Verfestigung der Bildarchitektur nach dem Aufenthalt in New York folgte in der letzten Zeit ein Prozess der partiellen Auflösung. Die durchlichteten Bildpartien scheinen die konstruktive Bildordnung immer mehr zu durchdringen. Die feste Tektonik wird durch das Lichtspiel weitgehend transparent und doch bleibt der Raum der einzige Bildgegenstand.

Dr. Hanne Weskott, 1999


Veröffentlicht in: Ausstellungskatalog ’Thomas Hellinger • Bilder 1991 – 1999’ der Galerie Markt Bruckmühl

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